Anmerkung der Redaktion: untenstehend veröffentlichen wir einen Beitrag von Jochen Scholz, der bereits gekürzt in der Zeitschrift „Freitag“ am 13.April veröffentlicht wurde (1).
Jochen Scholz war 38 Jahre Berufsoffizier der Luftwaffe, 12 Jahre in der NATO und 6 Jahre BMVg (Verteidigungsministerium) und ist politisch tätig in der Linkspartei und WASG Berlin.
Ausserdem kennt er Willi Wimmer (CDU) und arbeitet selbst im Bundestag. Warum er allerdings in der Linkspartei sein muss..
Aber lassen wir das diesmal.
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Jochen Scholz:
Abnutzungskrieg gegen das Bundesverfassungsgericht
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (Artikel 20 Absatz 4 GG) Mit „dieser Ordnung“ sind die Grundsätze der Absätze 1 bis 3 dieses Grundgesetzartikels gemeint: Gewaltenteilung, Demokratie- und Sozialstaatsprinzip, bundesstaatliche Ordnung, Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung sowie der Exekutive und Rechtsprechung an Gesetz und Recht.
Besonderes Gewicht gewinnt Artikel 20 durch Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, der ihn dem grundgesetzkonformen Verfahren der Änderung entzieht (die sogenannte „Ewigkeitsklausel“). Damit wird unterstrichen, dass es sich bei Artikel 20 um den Kern unserer staatlichen Verfasstheit handelt. Fürwahr, eine Bastion der Demokratie und des Rechtsstaates, an der niemand zu rütteln wagen dürfte.
Heribert Prantl hat am 3. April 2007 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Angriff auf die Bastion des Rechts“ zusammengetragen, was das Bundesverfassungsgericht – und in einem Fall der Bundesgerichtshof – seit drei Jahren dem Gesetzgeber und der Exekutive immer wieder ins Stammbuch geschrieben haben: Im Rechtsstaat darf nicht alles gemacht werden, was gemacht werden kann.
Dr. jur. Wolfgang Schäuble, den Erfinder des Quasi-Verteidigungsfalls – im Zusammenhang mit der Zurückweisung des Luftsicherheitsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht – und seine willfährigen Referenten im Bundesinnenministerium ficht dies nicht an. Ganz im Gegenteil, sie legen noch eine volle Schippe drauf: Ihr neues, sogenanntes Sicherheitspaket umfasst die automatisierte Rasterfahndung, die Speicherung von Fingerabdrücken und der biometrischen Daten aller Staatsbürger bei den Meldebehörden, die Ausweitung des Großen Lauschangriffs, die Verwendung der Daten aus der LKW-Maut, die Online-Durchsuchung mit einem „Bundestrojaner“, um auf verdächtige Rechner zugreifen zu können, ohne dass es der Besitzer bemerkt und die Rasterfahndung.
Jeder Staatsbürger steht damit bis zum Beweis des Gegenteils unter Generalverdacht und ist a priori ein Sicherheitsrisiko. Träte das Paket in Kraft, wäre der Souverän, das Volk, sein eigener potenzieller Staatsfeind, urteilt zu Recht der Kommentator des Berliner Tagesspiegels am 4. April.
Das alles rechtfertigt der für den Schutz der Verfassung zuständige Bundesinnenminister mit der Sicherheitsvorsorge für Bürger und Staat vor den Gefahren durch den Terrorismus. Nun geht ihm ja von jeher der Ruf voraus, „Effizienz“ über alles zu stellen. Und einige Kommentatoren sehen hier auch Schäubles Motive. Diese Interpretation greift aber zu kurz. Der Einserjurist geht mit seinen Plänen gegen die „Bastion“ (Prantl) des Rechts vor. Er „provoziert“ (Prantl) mit dem Gesetzespaket massive Konflikte mit dem Bundesverfassungsgericht. Sein Katalog „tut so, als gäbe es die höchstrichterlichen Entscheidungen nicht, als handele es sich um unverbindliche richterliche Empfehlungen“ (Prantl). Und exakt hier liegt des Pudels Kern. Schäuble beabsichtigt unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung eine weitere Verschiebung der staatlichen Machtbalance zugunsten der Exekutive und damit letztlich die Abschaffung der Gewaltenteilung, ohne die der Willkür der Exekutive Tür und Tor geöffnet wäre.
Nachdem das Parlament in einem fast sechzigjährigen Abnutzungskrieg bereits zum Erfüllungsgehilfen der Exekutive degeneriert ist, soll die Judikative demselben Verfahren unterzogen werden nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein. So etwas nennt man einen kalten Staatsstreich.
Nicht von ungefähr plädiert Schäuble seit Jahren für den Einsatz der Bundeswehr als Polizeisubstitut im Inneren und die völlige Entmachtung des Bundestages bei Auslandseinsätzen mit Hilfe von Generalermächtigungen. Der Volljurist weiß, was er tut, er ist keineswegs das Opfer einer Effizienzneurose. Wie bereits sein Vorgänger Schily schürt er im Verbund mit willfährigen Journalisten und „Terrorismusexperten“ die Ängste der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen, um Akzeptanz für Demokratieamputationen zu gewinnen. Wenn das nicht ausreicht, stehen auch andere Methoden zur Verfügung. Das zeigen die Affäre um das vom niedersächsischen Verfassungsschutz fingierte „Celler Loch“ im Jahr 1978, der Anschlag auf den Bahnhof von Bologna 1980 und die Etablierung terroristischer Kämpfer in Afghanistan 1979 durch den damaligen Sicherheitsberater Präsident Carters, Brzezinski. (Vgl. sein Interview im Nouvel Observateur v. 15. 1. 1998: Wir haben der Sowjetunion ihr Vietnam bereitet).
Die Machtfrage in Deutschland zugunsten der Exekutive zu entscheiden, ist allerdings kein Selbstzweck. Der erste Versuch des Liberalismus, die Gesellschaft auf Dauer wieder in Herren und Heloten zu spalten, ist im 19. Jahrhundert an der Arbeiterbewegung gescheitert. Nach dem 2. Weltkrieg musste er wegen des existierenden Sozialismus zähneknirschend so tun, als sei es ihm Anliegen, dem Menschen besser zu dienen, als jener. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion glaubt der Neo-Liberalismus, es gäbe nun keine Fesseln mehr. Hartz IV und die anderen sogenannten „Reformen“ in Deutschland sind der historisch zweite Versuch, diese Ziel doch noch zu erreichen. Auf europäischer Ebene sind die Mittel dazu, basierend auf den Prinzipien des Washington Consensus, die Verträge von Maastricht und Nizza und der vorläufig gescheiterte Verfassungsvertrag.
Der kluge Politiker baut jedoch vor. Denn wer wollte garantieren, dass sich Millionen von Menschen auf diesem reichen Kontinent einfach so zu Opfern degradieren lassen; dass sie nicht aufbegehren, wenn sie das Spiel durchschaut haben. Für diesen Fall sorgt der auf Effizienz bedachte Minister vor. Für diesen Fall stellt er alle Bürger unter Generalverdacht, die nicht auf der Forbes-Liste der Reichen und vermeintlich Mächtigen stehen und hält, zusätzlich zu den Notstandsgesetzen, die Mittel bereit, bereits den Anfängen zu wehren.
Noch steht eine Säule der rechtsstaatlichen Bastion, wenn auch mit kleineren Beschädigungen. Wie lange noch wird aber das Bundesverfassungsgericht den permanenten Angriffen standhalten können? Und was passiert, wenn die Kraft unseres eigentlichen Verfassungshüters erodiert oder die Exekutive seine Entscheidungen einfach ignoriert?
Nie war es mehr geboten, sich an das Widerstandsrecht zu erinnern. Und nie seit 1949 war die Forderung nach dem politischen Streik dringlicher.