Friedensutopien

Rosa Luxemburg
Rosa Luxemburg in 1915. (Bild:Wikipedia)

Anm. d. Redaktion: Dieser Artikel „Friedensutopien“ der 1871 im Zarenreich Russland geborenen Rozalia Luksenburg und späteren deutschen Sozialdemokratin Rosa Luxemburg, Mitglied der SPD, erschien zuerst im Kaiserreich Deutschland in der Leipziger Volkszeitung am 6. und 8. Mai 1911.

Wir bitten die kleine Verspätung zu entschuldigen.

I

Die Agitation zu den Reichstagswahlen wird von unsrer Partei allenthalben mit Frische und Eifer begonnen. Ihre allgemeine und denkbar glücklichste Einleitung war aber die glänzende Maifeier, die sich trotz aller abmahnenden Einflüsse und lähmender Einwirkungen aus Kreisen, welche die Maifeier als einen „lahmen Klepper“ betrachten, zu einem imposanten Demonstrationsmassenstreik gestaltet hat. Hier hat sich wieder gezeigt, wie viel begeisterte Kampfstimmung und opferfreudiger Idealismus in den Arbeitermassen lebendig sind. Um so mehr wird es zur dringenden Aufgabe der Partei, die diesjährige Reichstagswahlagitation nicht bloß zum Kampf um eine möglichst große Anzahl von Wählern und Mandaten, sondern in erster Linie zu einer Periode intensiver Aufklärung über die Grundsätze und die ganze Weltanschauung der Sozialdemokratie zu gestalten. Einer der Zentralpunkte des Wahlkampfes und der Agitation wird naturgemäß wieder die Frage des Militarismus sein. Und im Hinblick darauf gewinnt die Klärung unsres Standpunkts in dieser Frage, die sich an die jüngste Debatte im Reichstag geknüpft hat, dauernde und weittragende Bedeutung.

Wenn lediglich die Frage zur Diskussion stehen würde, ob unsre Reichstagsfraktion recht gehandelt hatte, einen Antrag einzubringen, der die deutsche Regierung zu Abmachungen behufs Einschränkung der Rüstungen aufforderte, so hätte der Streit sicher kein ernstes Interesse beanspruchen können. Da wir uns der parlamentarischen Tribüne als eines der wirksamsten Agitationsmittel bedienen müssen, so erscheint es als einfache Pflicht der sozialdemokratischen Abgeordneten, jede Gelegenheit auszunützen, um die Auffassung der Partei über wichtigste ErscheinungFen des öffentlichen Lebens derjenigen der herrschenden Klassen entgegenzustellen. Gebunden an parlamentarische Bedingungen, muß die Fraktion naturgemäß zu der Form von Interpellationen, Anträgen und dergleichen Zuflucht nehmen. Und da ist es zweifellos sehr verdienstlich von unsrer Reichstagsfraktion, das sie die Gelegenheit ergriffen hat, um eine großzügige Debatte über die Frage des Militarismus einzuleiten und die Vertreter der herrschenden Klassen zur offenen Sprache zu zwingen. Die Formulierung des Antrags selbst, dessen sich die sozialdemokratischen Abgeordneten hierbei bedienen, spielt an sich eine ziemlich untergeordnete Rolle. Nicht in der Antragsformel, sondern in der Begründung des Antrags, in den dabei gehaltenen Reden unsrer Fraktion kommt der Standpunkt der Partei zum Ausdruck. Soll doch der parlamentarische Antrag oft nur der Haken sein, an den unsre Agitation auf der Reichstagstribüne notgedrungen gehängt wird.

Die eigentliche Frage also, die für weitere Kreise der Partei Bedeutung hat, ist die, ob unsre Partei in der von ihr herbeigeführten Debatte den grundsätzlichen Standpunkt der Sozialdemokratie klar und konsequent vertreten, ob sie durch diese Debatte dazu beigetragen hat, in den Massen die sozialdemokratische Auffassung vom Wesen des Militarismus und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu verbreiten, um auf diese Weise für den Sozialismus gute Werbearbeit zu leisten.

Die Beantwortung dieser Frage hängt ganz davon ab, welche Seite man in unsrer Stellung zum Militarismus als die wichtigste und ausschlaggebende betrachtet. Würde der Standpunkt der Sozialdemokratie sich darin erschöpfen, der Welt bei jeder Gelegenheit vorzudemonstrieren, das unsre Partei eine unbedingte Anhängerin des Friedens und glühende Gegnerin militärischer Rüstungen ist, während die Regierung die Schuld an dem militärischen Wettrüsten trägt, dann könnten wir mit unsrer Leistung bei der jüngsten Reichstagsdebatte vollauf zufrieden sein. Allein das wäre kaum ein genügendes Resultat der großen und wichtigen Aktion. Unsre Aufgabe besteht nicht bloß darin, die Friedensliebe der Sozialdemokratie jederzeit kräftig zu demonstrieren, sondern in erster Linie darin, die Volksmassen über das Wesen des Militarismus aufzuklären und den prinzipiellen Unterschied zwischen der Stellung der Sozialdemokratie und derjenigen der bürgerlichen Friedensschwärmer scharf und klar herauszuheben. Worin besteht aber dieser Unterschied? Gewiß nicht darin allein, das die bürgerlichen Friedensapostel auf die Einwirkung schöner Worte lauern, während wir uns auf Worte allein nicht verlassen.

Unser ganzer Ausgangspunkt ist ein diametral entgegengesetzter: Die Friedensfreunde aus bürgerlichen Kreisen glauben, das sich Weltfriede und Abrüstung im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung verwirklichen lassen, wir aber, die wir auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung und des wissenschaftlichen Sozialismus stehen, sind der Überzeugung, das der Militarismus erst mit dem kapitalistischen Klassenstaate zusammen aus der Welt geschafft werden kann. Daraus ergibt sich auch die entgegengesetzte Taktik bei der Propagierung der Friedensidee. Die bürgerlichen Friedensfreunde sind bemüht – und das ist von ihrem Standpunkte ganz logisch und erklärlich –, allerlei „praktische“ Projekte zur allmählichen Eindämmung des Militarismus zu ersinnen, sowie sie naturgemäß geneigt sind, jedes äußere scheinbare Anzeichen einer Tendenz zum Frieden für bare Münze zu nehmen, jede Äußerung der herrschenden Diplomatie nach dieser Richtung beim Wort zu fassen und zum Ausgangspunkt einer ernsten Aktion aufzubauschen.

Die Sozialdemokratie kann umgekehrt hier, wie in allen Stücken der sozialen Kritik, ihren Beruf nur darin erblicken, die bürgerlichen Anläufe zur Eindämmung des Militarismus als jämmerliche Halbheiten, die Äußerungen in diesem Sinne, namentlich aus Regierungskreisen, als diplomatisches Schattenspiel zu entlarven und dem bürgerlichen Wort und Schein die rücksichtslose Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit entgegenzustellen. Dies war z. B. das Verhalten unsrer Partei auch der Haager Konferenz gegenüber. Während sie von Opportunisten verschiedener Länder mit dem üblichen kleinbürgerlichen Optimismus als ein segensreicher Ansatz zum Weltfrieden gepriesen wurde – noch vor zwei Jahren hatte Genosse Treves im römischen Abgeordnetenhaus in einer schwungvollen Rede den Vorschlag gemacht, der Haager Konferenz zur Feier ihres zehnjährigen Jubiläums eine Ehrung darzubringen –, hat die deutsche Sozialdemokratie für die holde Schöpfung des Blutzaren und seiner europäischen Kollegen nur den verdienten Hohn als für ein dreistes Possenspiel übriggehabt.

Von demselben Standpunkt kann die Aufgabe der Sozialdemokratie gegenüber Kundgebungen in der Art derjenigen der englischen Regierung nur die sein, die Idee einer teilweisen Einschränkung militärischer Rüstungen als eine Halbheit in ihrer Aussichtslosigkeit zu beleuchten und sie auf die Spitze zu treiben, dem Volke klar auseinanderzusetzen das der Militarismus mit der Kolonialpolitik, Zollpolitik, Weltpolitik aufs engste verknüpft ist, das also die heutigen Staaten, wenn sie dem Wettrüsten ernstlich und aufrichtig Einhalt gebieten wollten, damit anfangen müßten, handelspolitisch abzurüsten, koloniale Raubzüge ebenso wie die Weltpolitik der Interessensphären in allen Weltteilen aufzugeben, mit einem Wort, in der äußeren wie der inneren Politik das direkte Gegenteil von dem tun, was das Wesen der heutigen Politik eines kapitalistischen Klassenstaats ist. Damit wäre klar zum Ausdruck gebracht, was den Kern der sozialdemokratischen Auffassung bildet: das der Militarismus in seinen beiden Formen – als Krieg wie als bewaffneter Friede – ein legitimes Kind, ein logisches Ergebnis des Kapitalismus ist, das nur mit dem Kapitalismus zusammen überwunden werden kann, das also, wer aufrichtig den Weltfrieden und die Befreiung von der furchtbaren Last der Rüstungen wolle, auch den Sozialismus wollen müsse. Nur auf diesem Wege läßt sich aus Anlaß der Abrüstungsdebatte wirklich sozialdemokratische Aufklärung und Werbearbeit leisten.

Diese Arbeit wird hingegen ziemlich erschwert, die Stellung der Sozialdemokratie wird unklar und schillernd, wenn durch eine seltsame Rollenverwechslung unsre Partei dem bürgerlichen Staate umgekehrt partout einzureden sucht, er könne sehr wohl die militärischen Rüstungen einschränken und den Frieden herbeiführen, und zwar von seinem eignen Standpunkte, dem eines kapitalistischen Klassenstaats. Freilich hat unsre Reichstagsfraktion bei der jüngsten Debatte durchaus nicht restlos die Möglichkeit einer völligen Abschaffung des Militarismus und der Kriege im Rahmen der bürgerlichen Ordnung zugegeben, Genosse Ledebour hat vielmehr kräftige Verwahrungen dagegen eingelegt. Aber gerade daraus ergab sich, das der gleichzeitigen eifrigen Befürwortung eine teilweisen Abrüstung ein seltsamer Kompromißstandpunkt, der zwischen den beiden Standpunkten, dem der bürgerlichen Friedensapostel und dem der Sozialdemokratie, die Mitte hält, die die völlige Überwindung des Militarismus und der heutigen Gesellschaft leugnet, eine teilweise aber für möglich hält, eine Friedensära mitten in der kapitalistischen Welt heraufziehen sieht und doch an der Unvermeidlichkeit der sozialen Revolution festhält.

Es war bis jetzt der Stolz und die feste wissenschaftliche Basis unsrer Partei, das wir sowohl die allgemeinen Programmdirektiven wie auch die Losungen unsrer praktischen Tagespolitik nicht aus freien Stücken als Wünschenswertes ersannen, sondern uns in allen Dingen auf die Erkenntnis der Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung stützen, die objektiven Richtlinien dieser Entwicklung zum Maßstab unsrer Stellungnahme machten. Nicht die Möglichkeit vom Standpunkt des jeweiligen Kräfteverhältnisses im Staat, sondern die Möglichkeit vom Standpunkte der Entwicklungstendenzen der Gesellschaft war uns bis jetzt immer maßgebend. Wenn wir den gesetzlichen Achtstundentag immer wieder fordern, obgleich diese Forderung in den heutigen Parlamenten völlig aussichtslos ist, so deshalb, weil sie gerade auf der Linie der fortschrittlichen Entwicklung der Produktivkräfte, der Technik, der internationalen Konkurrenz des Kapitalismus liegt.

Nur weil der Achtstundentag zugleich ein enormer revolutionierender Schritt in der Aufklärung und Organisation der Arbeiterklasse wäre, sträubt sich die Bourgeoisie aus allen Kräften dagegen. Wirtschaftlich jedoch wäre der Kapitalismus durch die Einführung des Achtstundentags nicht bloß in seiner Entwicklung nicht aufgehalten, sondern er würde dadurch seine höchste, fortschrittlichste Stufe erklimmen. Die Einschränkung der Rüstungen hingegen, eine Rückbildung des Militarismus, liegt nicht auf der Linie der Fortentwicklung des internationalen Kapitalismus, sondern er könnte sich nur aus der Stagnation der kapitalistischen Entwicklung ergeben.

Nur wer einen Stillstand in der Weltpolitik erhofft – und diese ist das höchste und letzte Stadium der kapitalistischen Entwicklung – kann einen Stillstand in den Fortschritten des Militarismus für wahrscheinlich halten. Die Weltpolitik und der ihr dienende Militarismus zu Lande und zu Wasser, in Kriegs- und Friedenszeiten, ist doch nichts andres als die spezifisch kapitalistische Methode, internationale Gegensätze zugleich zu entwickeln und zum Austrag zu bringen.

Mit der Fortentwicklung des Kapitalismus und des Weltmarkts wachsen und steigern sich diese Gegensätze zusammen mit den inneren Klassengegensätzen ins Ungemessene, bis sie zur Unmöglichkeit werden und die soziale Revolution herbeiführen. An die Möglichkeit, diese internationalen Konflikte abflauen, sich mildern und verwischen zu lassen, kann nur glauben, wer an die Milderung und Abstumpfung der Klassengegensätze, an die Eindämmung der wirtschaftlichen Anarchie des Kapitalismus glaubt. Sind doch die internationalen Gegensätze der kapitalistischen Staaten nur die andre Seite der Klassengegensätze, die weltpolitische Anarchie nur die Kehrseite der anarchischen Produktionsweise des Kapitalismus. Beide können nur zusammen wachsen und zusammen überwunden werden. „Ein bißchen Ordnung und Friede“ ist deshalb genauso unmöglich, genauso eine kleinbürgerliche Utopie in bezug auf den kapitalistischen Weltmarkt wie auf die Weltpolitik, auf die Einschränkung der Krisen wie auf die Einschränkung der Rüstungen.

Werfen wir einen Blick auf die Vorgänge der letzten 15 Jahre der internationalen Entwicklung. Wo zeigt sich da irgendeine Tendenz zum Frieden, zum Abrüsten, zur schiedlichen Beilegung der Gegensätze? Wir hatten in diesen 15 Jahren: 1895 den Krieg zwischen Japan und China, der das Präludium der ostasiatischen Periode der Weltpolitik bildete, 1898 den Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten, 1899-1902 den Burenkrieg Englands in Südafrika, 1900 den Chinafeldzug der europäischen Großmächte, 1904 den Russisch-Japanischen Krieg, 1904-1907 den deutschen Hererokrieg in Afrika; dazu kommt 1908 die militärische Intervention Rußlands in Persien, im gegenwärtigen Moment die Militärintervention Frankreichs in Marokko, ohne der unaufhörlichen Kolonialscharmützel in Asien und in Afrika zu gedenken.

Schon die nackten Tatsachen zeigen also, das seit 15 Jahren beinahe kein Jahr ohne eine Kriegsaktion vergangen ist.

Doch wichtiger ist noch die nachhaltige Rückwirkung jener Kriege. Dem Krieg mit China folgte in Japan eine militärische Reorganisation, die zehn Jahre später das Kriegsunternehmen gegen Rußland ermöglichte und Japan zur militärischen Vormacht im Stillen Ozean machte. Der Burenkrieg zog nach sich eine militärische Reorganisation Englands, die Stärkung seiner bewaffneten Macht zu Lande. Der Krieg mit Spanien ist in den Vereinigten Staaten zum Ausgangspunkt einer Reorganisation der Kriegsflotte geworden und hat die Vereinigten Staaten zu einer Kolonialmacht mit weltpolitischen Interessen in Asien gemacht, den Keim des Interessengegensatzes zwischen den Vereinigten Staaten und Japan im Stillen Ozean geschaffen. Den Chinafeldzug begleitete in Deutschland eine grundlegende militärische Reorganisation, nämlich das große Flottengesetz des Jahres 1900, von dem das Wettrennen Deutschlands mit England zur See und die Verschärfung des Gegensatzes zwischen beiden Staaten datiert.

Weiter kommt aber eine andre hochwichtige Erscheinung hinzu, das soziale und politische Erwachen der Hinterländer, der Kolonien und der „Interessensphären“ zum selbständigen Leben. Die Revolution in der Türkei, in Persien, die revolutionäre Gärung in China, in Indien, in Ägypten, in Arabien, in Marokko, in Mexiko sind ebenso viele Ausgangspunkte weltpolitischer Gegensätze, Spannungen, militärischer Aktionen und Rüstungen. Gerade im Laufe der verflossenen anderthalb Jahrzehnte haben sich also die Reibungsflächen der internationalen Politik beispiellos vergrößert, eine Reihe neuer Staaten sind in den aktiven Kampf auf der Weltbühne getreten, alle Großmächte machten eine gründliche militärische Reorganisation durch.

Die Gegensätze haben infolge all dieser Vorgänge eine nie dagewesene Zuspitzung erreicht, und der Prozeß dauert immer weiter, da einerseits die Gärung im Orient mit jedem Tage zunimmt, anderseits jede neue Vereinbarung zwischen den Militärmächten unvermeidlich zum Ausgangspunkt neuer Konflikte wird. Die Revaler Entente zwischen Rußland, England und Frankreich, die Jaurès als eine Gewähr des Weltfriedens feierte, führte zur Verschärfung der Krise auf dem Balkan, beschleunigte den Ausbruch der türkischen Revolution, ermutigte Rußland zur militärischen Aktion in Persien und führte zur Annäherung zwischen der Türkei und Deutschland, die ihrerseits den deutsch-englischen Gegensatz zuspitzte. Die Potsdamer Vereinbarung hat die Verschärfung der Krise in China zur Folge, und von derselben Wirkung war die russisch-japanische Verständigung.

Rechnet man also einfach mit Tatsachen, so hieße es absichtlich die Augen verschließen, wenn man nicht einsehen wollte, das aus diesen Tatsachen alles andre denn eine Milderung der internationalen Konflikte und irgendwelche Ansätze zum Weltfrieden sprechen. Wie kann man angesichts dessen von Friedenstendenzen der bürgerlichen Entwicklung reden, die angeblich ihre Kriegstendenzen durchkreuzen und überwinden? Worin sind sie zum Ausdruck gekommen? In der Kundgebung Sir Edward Greys und des französischen Parlaments? In der „Rüstungsmüdigkeit“ der Bourgeoisie?

Aber die mittleren und die kleinbürgerlichen Schichten der Bourgeoisie stöhnen seit jeher über die Last des Militarismus, genauso wie sie über die Verwüstungen der freien Konkurrenz, über die wirtschaftlichen Krisen, über die Gewissenlosigkeit der Börsenspekulation, über den Terrorismus der Kartelle und Trusts stöhnen. Die Tyrannei der Trustmagnaten in Amerika hat sogar einen ganzen Aufruhr breiter Volksschichten und eine langwierige Aktion der Staatsgewalten gegen sie hervorgerufen. Erblickt etwa die Sozialdemokratie hierin die Anzeichen einer beginnenden Einschränkung der Trustentwicklung, oder hat sie nicht vielmehr für jenen kleinbürgerlichen Aufruhr ein mitleidiges Achselzucken und für jene Staatsaktion nur ein höhnisches Lächeln übrig?

Die „Dialektik“ der Friedenstendenz der kapitalistischen Entwicklung, die ihre Kriegstendenz angeblich durchkreuzt und über sie obsiegt, läuft einfach auf die alte Binsenwahrheit hinaus, dass die Rosen der kapitalistischen Profitmacherei wie der Klassenherrschaft eben auch für die Bourgeoisie nicht ohne Dornen sind, die sie jedoch trotz Weh und Ach immer noch lieber um ihr Dulderhaupt, solange es geht, zu tragen vorzieht, als sie mitsamt dem Haupt auf den gutgemeinten Rat der Sozialdemokratie loszuwerden.

Dies den Massen auseinanderzusetzen, alle Illusionen in bezug auf die Friedensmache von bürgerlicher Seite rücksichtslos zu zerzausen, und die proletarische Revolution als den einzigen und ersten Akt des Weltfriedens zu erklären, das ist die Aufgabe der Sozialdemokratie angesichts aller Abrüstungspossen, ob sie in Petersburg, London oder Berlin arrangiert werden. Sich selbst und andern klaren Wein einschenken ist allezeit die beste praktische Politik für die Partei des revolutionären Proletariats gewesen. Und dies ist doppelt unsre Aufgabe in der beginnenden Agitation zu den Reichstagswahlen, wenn wir nicht bloß in die Breite, sondern auch in die Tiefe an Macht und Einfluß zunehmen wollen.

II

Das Utopische des Standpunkts, der eine Friedensära und die Rückbildung des Militarismus in der heutigen Gesellschaft erwartet, kommt deutlich darin zum Ausdruck, das er zur Projektemacherei Zuflucht nimmt. Es ist ja typisch für utopische Bestrebungen, das sie, um ihre Realisierbarkeit zu beweisen, möglichst detaillierte „praktische“ Rezepte aushecken. Dahin gehört auch das Projekt der „Vereinigten Staaten Europas“ als Basis zur Einschränkung des internationalen Militarismus.

„Wir unterstützen“, sagte Genosse Ledebour in seiner Etatrede im Reichstag am 3. April, „alle die Bestrebungen, die darauf hinauslaufen, die fadenscheinigen Vorwände für die unaufhörliche Kriegsrüstung zu beseitigen. Wir fordern den wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluß der europäischen Staaten. Ich bin fest überzeugt: wenn auch sicher in der Zeit des Sozialismus, so kann es doch auch schon früher dazu kommen, das wir die Vereinigten Staaten von Europa erleben, wie wir heutigentags den Vereinigten Staaten von Amerika im Wettbewerb gegenüberstehen. Wir stellen wenigstens an die kapitalistische Gesellschaft, an die kapitalistischen Staatsmänner die Forderung, das sie im Interesse der kapitalistischen Entwicklung in Europa selbst, um Europa später in der Weltkonkurrenz nicht vollkommen unter den Schlitten kommen zu lassen, diesen Zusammenschluß Europas zu den Vereinigten Staaten von Europa vorbereiten.“

Und in der Neuen Zeit vom 28. April schreibt Genosse Kautsky:

„Und die Verwirklichung solcher Verständigungen böte noch keine Garantie für eine ständige Fortdauer des Friedens, die das Gespenst des Krieges für immer bannte. Dafür gibt es heute nur einen Weg: die Vereinigung der Staaten der europäischen Zivilisation in einem Bunde mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer – die Herstellung der Vereinigten Staaten von Europa. Gelänge dies, so wäre Ungeheures erreicht. Diese Vereinigten Staaten besäßen eine solche Übermacht, das sie ohne jeglichen Krieg alle andern Nationen, soweit sie sich ihnen nicht freiwillig anschlössen, dazu zwingen könnten, ihre Armeen aufzulösen, ihre Flotten aufzugeben. Damit hörte aber auch für die neuen Vereinigten Staaten selbst jede Notwendigkeit einer Bewaffnung auf. Sie könnten nun nicht bloß auf alle weiteren Rüstungen, auf das stehende Heer, auf die Angriffswaffen zur See verzichten, deren Aufgeben wir heute schon fordern, sondern auch auf jegliches Mittel der Verteidigung, auf das Milizsystem selbst. Damit wäre die Ära des ewigen Friedens sicher begründet.“

Zunächst muß festgestellt werden, das diese Idee jedenfalls in der Parteiagitation ganz neu ist. Weder enthält unser Minimalprogramm auch nur eine Erwähnung einer solchen Konstruktion, noch haben sich je unsre Parteitage oder internationale Kongresse damit befaßt, noch ist sie auch nur in der Parteiliteratur je ernstlich diskutiert worden. Und es hat gewiß sein Mißliches, wenn solche ad hoc, gewissermaßen aus dem Handgelenk geschaffenen Einfälle, die starke Züge eines Verlegenheitsprodukts an sich tragen, von der Tribüne des Parlaments offiziell im Namen der Gesamtpartei befürwortet werden. Es werden auf diese Weise nicht nur vor den bürgerlichen Gegnern, sondern auch in sozialistischen Kreisen im Auslande als Gedankenausdruck der deutschen Sozialdemokratie Ansichten vertreten, die schon, rein formal genommen, durchaus keinen Anspruch darauf erheben können.

So plausibel die Idee der Vereinigten Staaten Europas als einer Friedenskonvention auf den ersten Blick vielleicht manchem erscheinen mag, sie hat gleichwohl bei näherem Zusehen mit der Denkweise und den Standpunkten der Sozialdemokratie nicht das geringste zu tun.

Als Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung vertraten wir bis jetzt immer den Standpunkt, das die modernen Staaten als politische Gebilde nicht künstliche Produkte einer schöpferischen Phantasie, wie z. B. das Herzogtum Warschau napoleonischen Angedenkens, sondern historische Produkte der wirtschaftlichen Entwicklung sind. Mag das Moment der dynastischen Interessen vom Mittelalter her die Grenzen und die Zusammensetzung der heutigen Staaten, wie z. B. der österreichisch-ungarischen Monarchie, noch sosehr bestimmend beeinflußt haben, die später hinzugetretene kapitalistische Entwicklung hat in dem losen Gemengsel von Ländern und Provinzen des Staates wirtschaftliche Zusammenhänge geschaffen, die gemeinsame Klassenherrschaft der Bourgeoisie hat den politischen Reifen um das Ganze gelegt.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in ihrer jetzigen Gestalt als enormes Wirtschaftsgebiet und politische Macht gleichfalls das Produkt eines Jahrhunderts kapitalistischer Entwicklung innerhalb gemeinsamer Staatsgrenzen.

Welche wirtschaftliche Grundlage liegt aber der Idee einer europäischen Staatenföderation zugrunde? Europa ist wohl ein geographischer und in gewissen Grenzen ein kulturhistorischer Begriff. Die Vorstellung jedoch von Europa als einem Wirtschaftsganzen widerspricht zwiefach der kapitalistischen Entwicklung. Einerseits bestehen innerhalb Europas unter den kapitalistischen Staaten – und solange diese existieren – die heftigsten Konkurrenzkämpfe und Gegensätze, anderseits kommen die europäischen Staaten wirtschaftlich ohne die außereuropäischen Länder gar nicht mehr aus. Als Lieferanten der Lebensmittel, Rohstoffe und Fabrikate wie als Abnehmer derselben sind die übrigen Weltteile mit Europa tausendfältig verknüpft. Bei dem heutigen Entwicklungsstadium des Weltmarkts und der Weltwirtschaft ist der Begriff von Europa als einem gesonderten Wirtschaftsganzen ein lebloses Hirngespinst. Europa bildet ebenso wenig ein in sich zusammenhängendes besonderes Ganzes innerhalb der Weltwirtschaft wie Asien oder Amerika.

Ist die Idee des europäischen Zusammenschlusses wirtschaftlich längst überholt, so nicht minder politisch. Sie ist im Grunde genommen nur ein demokratisch aufgeputzter Abklatsch der Idee vom Konzert der europäischen Mächte, das als der bewegende Mittelpunkt, als die Zentralsonne des politischen Weltalls die Geschicke entschied. Die Zeiten aber, wo der Schwerpunkt der politischen Entwicklung und die Kristallisationsachse der kapitalistischen Gegensätze auf dem europäischen Kontinent lagen, sind längst vorbei. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts und traditionell noch bis zur Märzrevolution lag der Mittelpunkt der internationalen Politik in dem Gebiet des aufgeteilten Polens, an der deutsch-russisch-österreichischen Grenze. In den fünfziger Jahren verschob er sich an den Bosporus. Die siebziger Jahre schufen mit dem Deutsch-Französischen Krieg einen neuen Schwerpunkt, um den sich der Zweibund und der Dreibund als die Pfeiler des europäischen Gleichgewichts gruppiert haben. Damals hätte die Utopie der europäischen Föderation wenigstens einen historischen Sinn gehabt.

Mit den achtziger Jahren begann aber eine ganz neue Ära der internationalen Politik – es setzten die Kolonialeroberungen mit erneuter Wucht ein, denen in den neunziger Jahren der allgemeine Wettlauf der Weltpolitik um überseeische Einflußsphären, in dem letzten Jahrzehnt das allgemeine Erwachen des Orients folgte. Heute ist Europa nur ein Glied in der wirren Kette internationaler Zusammenhänge und Gegensätze. Und was das Entscheidende: Die europäischen Gegensätze selbst spielen jetzt gar nicht mehr auf dem europäischen Kontinent, sondern in sämtlichen Weltteilen und Ozeanen.

Nur wenn man plötzlich all diese Vorgänge und Verschiebungen aus den Augen verliert und sich in die seligen Zeiten des europäischen Konzerts zurückversetzt, kann man z. B. davon reden, das wir seit 40 Jahren einen ununterbrochenen Frieden haben. Dieser Standpunkt, für den nur die Vorgänge auf dem europäischen Kontinent existieren, bemerkt gar nicht, das wir gerade deshalb seit Jahrzehnten keinen Krieg in Europa haben, weil die internationalen Gegensätze über die engen Schranken des europäischen Kontinents ins ungemessene hinausgewachsen sind, weil europäische Fragen und Interessen jetzt auf dem Weltmeer und nicht in dem europäischen Krähwinkel ausgefochten werden. Die „Vereinigten Staaten Europas“ sind also eine Idee, die sowohl wirtschaftlich wie politisch dem Gang der Entwicklung direkt zuwiderläuft, von den Vorgängen des letzten Vierteljahrhunderts gar keine Notiz nimmt.

Das eine mit der Entwicklungstendenz so wenig übereinstimmende Idee trotz aller radikalen Allüren im Grunde genommen keine fortschrittliche Losung abgeben kann, bewahrheitet sich auch an dem Einfall der „Vereinigten Staaten Europas“. Nicht von sozialdemokratischen Parteien, sondern von bürgerlicher Seite ist bis jetzt von Zeit zu Zeit die Idee eines europäischen Zusammenschlusses aufgeworfen worden. Dies geschah aber jedes Mal mit deutlicher reaktionärer Tendenz. Es war z. B. der bekannte Sozialistenfeind Prof. Julius Wolf, der die europäische Wirtschaftsgemeinschaft propagierte. Sie bedeutete aber nichts andres als eine Zollgemeinschaft zum handelspolitischen Kriege gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und ist auch so von sozialdemokratischer Seite aufgenommen und kritisiert worden.

Und jedes Mal, wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben, da war es mit einer offenen oder stillschweigenden Spitze gegen die „gelbe Gefahr“, gegen den „schwarzen Weltteil“, gegen die „minderwertigen Rassen“, kurz, es war stets eine imperialistische Mißgeburt.

Und wenn wir als Sozialdemokraten jetzt versuchen sollten, diesen alten Schlauch mit neuem, scheinbar revolutionärem Wein zu füllen, so muß man sagen, das die Konsequenz jedenfalls nicht auf unsrer, sondern auf bürgerlicher Seite wäre. Die Dinge haben eben ihre eigene, objektive Logik.

Und die Losung des europäischen Zusammenschlusses kann objektiv innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur wirtschaftlich einen Zollkrieg mit Amerika und politisch einen kolonialpatriotischen Rassenkampf bedeuten. Der Chinafeldzug der vereinigten europäischen Regimenter mit dem Weltfeldmarschall Waldersee an der Spitze und dem Hunnenevangelium als Panier – das ist der wirkliche und phantastische, der einzig mögliche Ausdruck der „europäischen Staatenföderation“ in der heutigen Gesellschaft.

Aber sind wir überhaupt noch mit den „Vereinigten Staaten Europas“ in der kapitalistischen Welt? Das ist das Schwierige an der Sache. Einerseits handelt es sich um eine Staatenföderation „mit gemeinsamer Handelspolitik, einem Bundesparlament, einer Bundesregierung und einem Bundesheer“, also wohl um eine bürgerliche Schöpfung. Und Genosse Ledebour verlangt auch ausdrücklich von den Staatsmännern der heutigen Periode, das sie im wohlverstandenen Interesse des Kapitalismus selbst diesen Zusammenschluß Europas vorbereiten. Anderseits aber, wenn wir nach den Verwirklichungsmöglichkeiten dieses Projekts fragen, sagt uns Genosse Kautsky, der einzige Weg dazu wäre – eine europäische Revolution. Nun ist, wie allgemein bekannt, heutzutage das Proletariat unter der Führung der Sozialdemokratie die einzige Klasse, die eine Revolution machen könnte.

Die Verwirklichung der „Vereinigten Staaten Europas“, die als ein praktischer Weg zur Einschränkung des heutigen Militarismus vorgeschlagen werden, soll also einzig und allein durch den Sieg des revolutionären Proletariats, also nach der sozialen Revolution erst ermöglicht werden! Man weiß nicht, was an dieser Vorstellung mehr zu bewundern ist: die Herrschaft des sozialistischen Proletariats mit einer Bundesregierung und einem „Bundesheer“ oder die Aufforderung an die Staatsmänner der heutigen Periode, sie sollen „im wohlverstandenen Interesse des Kapitalismus selbst“ – die soziale Revolution vorbereiten.

Verrät somit die Idee des europäischen Staatenbundes selbst ihre utopische Natur durch dieses unsichere Schwanken zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt, so ist sie anderseits auch ganz unbrauchbar als Agitationslosung, zur konkreteren Vorstellung über die Grundlagen der proletarischen Politik. Die Idee der europäischen Kulturgemeinschaft ist der Gedankenwelt des klassenbewußten Proletariats völlig fremd. Nicht die europäische Solidarität, sondern die internationale Solidarität, die sämtliche Weltteile, Rassen und Völker umfaßt, ist der Grundpfeiler des Sozialismus im Marxschen Sinne. Jede Teilsolidarität aber ist nicht eine Stufe zur Verwirklichung der echten Internationalität, sondern ihr Gegensatz, ihr Feind, eine Zweideutigkeit, unter der der Pferdefuß des nationalen Antagonismus hervorguckt.

Ebenso wie wir stets den Pangermanismus, den Panslawismus, den Panamerikanismus als reaktionäre Ideen bekämpfen, ebenso haben wir mit der Idee des Paneuropäertums nicht das geringste zu schaffen.

Unsre Agitatoren werden also wohl tun, bei der bevorstehenden Wahlkampagne von der so unverhofft und plötzlich hineingeworfenen Losung der „Vereinigten Staaten Europas“ keinen weiteren Gebrauch zu machen. Sie ist nur geeignet, die klaren Richtlinien unsrer internationalen Politik und unsrer revolutionären Friedenspropaganda zu trüben und zu verwässern. Wir brauchen aber auch wahrhaftig solche neuen Einfälle nicht. Unsre bisherige Auffassung hat uns bis jetzt gute Dienste geleistet, sie hat uns das Ansehen bei den Gegnern und das Vertrauen von Millionen erworben. Wir haben keinen Grund, sie durch gewagte neue „Erläuterungen“ zu vernichten.

„Das Wort sie sollen lassen stahn.“