„Gerade unsere griechischen Freunde zeigen uns, dass Wählen auch einen Unterschied machen kann“
Die Rede von Hannes Rockenbauch, Stadtrat SÖS/LINKE/PLuS, auf der gestrigen 277. Montagsdemo der Demokratiebewegung gegen das urbane und verkehrsindustrielle Umbauprogramm „Stuttgart 21“ (S21).
Hallo zusammen,
auch von mir ein herzliches Willkommen zur 277. Montagsdemo. Es ist ja immer wieder ein besonderes Vergnügen, auf einer Montagsdemo reden zu können.
Ich erinnere mich noch genau: vor fünf Jahren, am 28. Juli 2010 durfte ich auf der 32. Montagsdemo sprechen. Die Bäume im Schlossgarten standen noch, der Südflügel war noch nicht abgerissen, selbst der Nordflügel war noch intakt, und es gab dort nicht mal den legendären Bauzaun. Aber es gab uns schon und unsere guten Argumente. Meine zentrale Aussage von damals war „auch wenn sie uns den Nord- und Südflügel nehmen und selbst die Bäume, auch dann wird „Stuttgart 21“ nicht unumkehrbar sein“.
Ähnlich wie heute nahmen uns auch Anfang 2010 die Tunnelparteien und die Medien wenig ernst. Ich selber forderte damals einfach frech, die alte Arbeitsteilung „die da oben regieren und die da unter werden regiert“ zu durchbrechen, aber auch ich hätte nicht geglaubt, dass nur vier Monate später die ganze Republik nur noch über Stuttgart und seine Mutbürger diskutieren würde. Ich erinnere mich gerne an diesen Umstand, denn er macht klar: Keiner weiß, was die Zukunft bringt und keiner von uns kann ausschließen, dass in nur vier Monaten nicht die ganze Republik wieder über „Stuttgart 21“ redet.
Das macht mir Mut und gibt mir das Gefühl, da geht noch mehr.
Die Skeptiker unter uns sagen jetzt bestimmt wieder, aber 2010 ist mit 2015 nicht zu vergleichen. Und ich kann diese Skepsis auch zum Teil verstehen. 2010 hatten wir noch nicht die Bäume und der Bahnhof nicht seine Flügel und wir hatten auch noch nicht die Volksabstimmung verloren. Ja, auch gebuddelt wurde 2010 noch nicht. Und vielleicht waren wir auch noch um die eine oder andere Illusion reicher, z.B. die, man müsse nur die richtige Partei wählen und könne damit einfach S21 abwählen. Mit all dem haben die Skeptiker Recht.
Aber trotz all diesen Bedenken hat der Sommer 2010 für mich klar gemacht: keiner kennt die Zukunft und alles kann sich ändern. Und selbst fünf Jahre nach meinen frechen Worten am Südflügel gilt doch, „Stuttgart 21“ ist weder fertig geplant, noch fertig genehmigt, noch fertig finanziert, und deswegen – da bin ich mir sicher – werden sie noch kommen, die Chancen, dieses wahnsinnige Projekt endlich zu stoppen.
Wir wissen aber auch, dass die Tunnelparteien diese Chancen nicht von sich aus nutzen wollen, und wir haben auch gelernt, dass es unser Job als Demokratiebewegung ist, den nötigen Druck zu machen. Und diese Woche haben wir wieder reichlich Gelegenheit dazu, denn die 60 Stadträte und der OB haben es jetzt in der Hand. Die beiden Bürgerbegehren Storno21 und Leistungsrückbau bieten genug Gründe, diesen Donnerstag den Ausstieg aus „Stuttgart 21“ zu beschließen. Ich finde das ist eine gute Gelegenheit für jeden hier, mal wieder sein Rathaus zu besuchen. Denn mit diesen beiden Bürgerbegehren stehen die beiden Kernfragen eines jeden Projekts zur Abstimmung. Die Fragen nämlich: Was bringt es und was kostet es? Wie bei keinem anderen Projekt sind diese Fragen bei S21 ganz einfach zu beantworten: Bringen tut es nix und kosten zu viel, viel zu viel!
Das ist die schmerzhafte Wahrheit, vor der die Tunnelparteien so hartnäckig die Augen verschließen. Das Schlimme ist, dass wir diese Realitätsverweigerung schon so gewohnt sind, dass kaum einer damit rechnen wird, dass diese Woche nicht gleich zweimal über 20.000 Unterschriften von der Gemeinderatsmehrheit in die Tonne getreten werden. Dass dazu mal wieder absurde rechtliche Begründungen herhalten müssen, wundert auch niemand mehr. Ich glaube, es lohnt sich trotzdem, sich diese Absurditäten vor Augen zu führen. Ausführlich werden wir das in der anschließenden Veranstaltung im Rathaus um 19:30 tun. Deswegen will ich hier nur auf die zentralen Argumente eingehen, mit denen die Ablehnung der beiden Bürgerbegehren begründet wird.
In beiden Fällen argumentiert die Stadt unter OB Kuhn, die Bürgerbegehren seien auf ein rechtwidriges Ziel gerichtet, nämlich das Ziel, unkündbare Verträge zu künden: „die Verträge von 2009 müssen eingehalten werden, basta aus.“ Schon der kluge Menschenverstand sagt einem, dass es eigentlich keine Verträge geben darf, aus denen man gar nicht mehr herauskommt, denn unkündbare Verträge mit der öffentlichen Hand laden die privaten Vertragspartner ja gerade dazu ein, bei Vertragsabschluss zu betrügen. Und genau das hat die Bahn AG 2009 auch getan.
Um das zu verstehen, hilft es vielleicht, die Geschehnisse von 2009 kurz zu veranschaulichen:
So heißt es in der Finanzierungsvereinbarung vom April 2009 noch, dass „Stuttgart 21“ drei Milliarden Euro plus 1,5 Milliarden Euro Risikopuffer kosten würde und 50% mehr Züge als der heutige Kopfbahnhof bewältigen könne. Das war die Geschäftsgrundlage, als die Finanzierungsvereinbarung im April beschlossen wurde.
Im Sommer 2009 wurde dann plötzlich fieberhaft gerechnet, denn es war durchgesickert, dass die Bahn AG intern schon von 4,9 Milliarden Euro Kosten ausging. Seit dem Faktencheck wissen wir, dass Dress und Sommer im Auftrag der DB AG die Kosten sogar bei über 5 Milliarden Euro gesehen hatte.
Überraschenderweise legte die Bahn AG dann im Dezember 2009 einen neuen Kostenstand von 4,0 Milliarden plus ca. 0,5 Milliarden Euro Risikopuffer vor. Diese wunderbare Kostenreduzierung sei durch bisher ungenützte Einsparpotentiale möglich geworden. Die Ausstiegsoption wurde nicht gezogen und Rüdiger Grube verkündete in der Presse: „Mit den nun vorliegenden Zahlen liegen alle heute bekannten Fakten auf dem Tisch“.
Erst ein Jahr nach der Volksabstimmung und kurz nach der OB-Wahl in Stuttgart musste die Bahn AG zugeben, dass diese Einsparpotentiale nicht zu realisieren seien und sogar weitere 1,1 Milliarden Euro Kostenrisiken bei S21 drohen. In der Aufsichtsratssitzung im März 2013 gab die Bahn AG damit indirekt ihr Täuschungsmanöver zu und räumte ein, dass sie bei Kosten von 6,8 Milliarden Euro nie damit angefangen hätte, S21 zu bauen.
Erst diesen Monat nun hat Prof. Ostertag eine aktualisierte Kostenschätzung von 11-15 Milliarden Euro für „Stuttgart 21“ ohne Neubaustrecke vorgelegt.
Liebe Freundinnen und Freunde, nicht nur bei den Kosten wurde gelogen, fast im gleichen Maße wie die Kosten bei S21 explodierten, im gleichen Maße implodierten die Leistungsversprechen. Dank Wikireal wissen wir, dass die angebliche Kapazität von 49 Zügen bei S21 eine rein fiktive Rechengröße ist, die mit einem real befahrbaren Bahnhof und mit einer guten Betriebsqualität nicht zu realisieren ist. Unterstützt wird unsere Annahme, dass die Planfeststellung mit 32 Zügen beantragt wurde und wir heute nachweisen können, dass schon mit diesen 32 Zügen S21 im Brandfall überfordert wäre. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Stuttgarter Gemeinderat nachweisliche durch eine falsche Präsentation der Personenstromanalyse getäuscht wurde.
Man muss unsere Expertise nicht teilen, um trotzdem zu erkennen, dass S21 einen Leistungsrückbau bedeutet. Man muss sich dazu nur einfach anschauen, was unser heutiger Kopfbahnhof schon leisten könnte. 2013 hat das Landesverkehrsministerium erneut eingeräumt, dass der Kopfbahnhof mindestens 50 Züge und das in besserer Betriebsqualität bewältigen kann.
Wie man angesichts des heute nun bekannten Kostenbetrugs und der Leistungslüge noch an den Verträgen von 2009 festhalten kann, kann man als normaler Bürger nicht mehr verstehen. Deswegen hat Kuhn wohl auch einen Herrn Professor beauftragt, der uns das erklären soll. Und wie bestellt, liefert der Herr Professor eine äußerst kreative Begründung. In puncto Kosten argumentiert er, dass ja 2009 auf Antrag der SPD für eventuelle Mehrkosten ein Bürgerantrag beschlossen wurde. Mit diesem Beschluss sei dokumentiert, dass man bereits 2009 mit Mehrkosten gerechnet habe und damit seien die von der Bahn AG 2013 bekannt gegebenen Zahlen nichts Neues, und wenn nichts Neues vorläge, könne auch die Geschäftsgrundlage nicht entfallen.
Ich finde das schlicht den Hammer, denn was der Herr Professor hier wirklich macht, ist, dass er den offensichtlichen Kostenbetrug der DB AG mit normalen und üblichen Kostensteigerungen während der Bauzeit gleichsetzt. Aber es wird noch abstruser, denn Herr Kirchberg und folglich auch die Stadtverwaltung argumentieren, dass in puncto Leistungslüge keine objektiven Anhaltspunkte vorlägen. Ja was wollt ihr denn noch an Beweisen?
So eine Aussage kann man nur mit Realitätsverweigerung und nicht mit juristischem Sachverstand erklären. Aber mal ganz ehrlich, was ich eh nicht verstehe ist, wie der Jurist Kirchberg das Bahntechnisch überhaupt beurteilen kann. Trotzdem versteckt sich jetzt die Politik hinter dem Herrn Professor. Durch diese Realitätsverweigerung wird der ehemalige S21-Gegner Kuhn zum Mittäter in Deutschlands vielleicht größtem Betrugsfall.
Wenn ich nun an die kommende Woche denke und die Arroganz der neuen und alten Tunnelparteien vor mir sehe, spüre ich wieder, wie diese Wut in mir hochsteigt. Und es ist ja auch zum Haareraufen. Vor nicht einmal fünf Jahren haben wir und viele tausende mehr mitgeholfen, dass es in diesem schönen Lande nach 60 Jahren CDU-Herrschaft zu einem Machtwechsel kommt. Und wir waren erfolgreich. Inzwischen haben wir einen grünen Ministerpräsidenten, einen grünen Verkehrsminister, einen grünen Oberbürgermeister: mehr Machtwechsel geht eigentlich nicht. Doch spätestens jetzt, beim Umgang unseres OB mit den beiden Bürgerbegehren, müssen wir feststellen, dass nur das Personal gewechselt hat, aber im Großen und Ganzen, und das nicht nur bei S21, die Politik die gleiche geblieben ist.
Liebe Freundinnen und Freunde, ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann das einfach nicht akzeptieren und ich will das alles auch nicht einfach so hinnehmen. Statt mich nur weiter zu ärgern, habe ich jetzt beschlossen, als parteiloser Kandidat zur Landtagswahl 2016 bei den LINKEN anzutreten. Denn ich bin überzeugt, da geht noch mehr als nur ein Personalwechsel, und gerade unsere griechischen Freunde zeigen uns doch, dass Wählen auch einen Unterschied machen kann!!!
Aber lassen sie mich gleich eines klarstellen. Auch ein Rockenbauch im Landtag kann S21 nicht alleine stoppen. Um „Stuttgart 21“ zu stoppen, bedarf es unser aller Aktion! Wählen alleine ist nicht genug, es kommt darauf an, dass sich die Menschen die Politik selber aneignen, genau so, wie wir es im Sommer 2010 schon einmal getan haben und durch unsere bunte Lebendigkeit die Trostlosigkeit der Alternativloslogik von Merkel und Co. in Frage gestellt haben. Lassen Sie uns weiter daran arbeiten, dass so etwas wieder möglich wird. Und ich sage das bewusst auch mit dem Blick auf unsere griechischen Freunde. Denken wir stets dran: Keiner von uns weiß, was in den nächsten vier Monaten oder im nächsten Jahr noch für Überraschungen auf uns warten.
Egal, was diese Woche die alten und neuen Tunnelparteien beschließen, lasst uns nicht unser altes Motto vergessen: Ihr werdet uns nicht los, wir euch schon!
Oben bleiben!