Hermann Scheer kritisiert „fast putschistische“ Rochade der alten SPD-Regierungslobby

Hermann Scheer

Der alternative Nobelpreisträger sieht die „Selbstnominierung“ von Funktionären an der Parteispitze im Widerspruch zur „demokratischen Verfassung einer Partei“.

Hermann Scheer äusserte sich gestern vor dem SPD-Präsidiums- und Vorstandstreffen im Willy-Brandt-Haus zur Ausrufung von Sigmar Gabriel als Parteivorsitzenden, Andrea Nahles als Generalsekretärin und Frank-Walter Steinmeier als Fraktionsvorsitzenden, welche nur durch eine kleine Clique leitender SPD-Funktionäre organisiert worden war. Scheers Kritik wurde, ungewöhnlich genug, sogar in den gestrigen ZDF-Abendnachrichten um 19 Uhr im Original gesendet. Scheer verlautbarte, dass

„in einem Hauruck-Verfahren, quasi fast putschistisch, 48 Stunden nach der Wahl, bevor eine Diskussion stattgefunden hat, ein solcher Akt der Selbstnominierung eines kleinen Personenkreises stattgefunden hat. Und dieses ist, offen gesagt, nicht erträglich. (1)
Das, was da passiert ist, widerspricht der demokratischen Verfassung einer Partei.“ (2)

Hermann Scheer hatte sich schon am Samstag erschienenen Interview mit dem „Stern“ zur erneuten Kontrollübernahme der SPD-Führungsebene durch eine 11 Jahre amtierende Regierungslobby geäussert:

„Das gab es noch nie in der SPD. Was in den letzten Tagen ablief, ist ein bisher einmaliger Akt der Selbstnominierung einer neuen SPD-Parteiführung durch einen kleinen, von niemandem autorisierten Personenkreis. Überfallartig wurde damit jedwede Willensbildung in der Partei selbst sowie des Präsidiums und des Parteivorstands übergangen. Dies widerspricht allen demokratischen Gepflogenheiten und Regeln.“

Nach Scheers Ansicht dürften weite Kreise der offiziell immer noch über 500.000 Mitglieder zählenden SPD diese Meinung teilen.

„Denn gegen diese Methode der Auswahl eines durchaus umstrittenen Parteivorsitzenden ist die Papstwahl, die sich in einem mehrtägigen Auswahlprozess unter verschiedenen Kandidaten vollzieht, ein radikaldemokratischer Vorgang. Die SPD hat aber den Anspruch, demokratischer organisiert zu sein als die katholische Kirche..

Umso unglaublicher ist es, dass ausgerechnet Müntefering, der sich so viel auf sein Talent als Parteichef zugute hält, dies energisch mitbetrieben hat. Er war es, der am vergangenen Montag in der letzten Sitzung des SPD-Parteivorstands vorgeschlagen hatte, erst am kommenden Montag über die sachlichen und personellen Konsequenzen aus dem Wahldebakel zu ziehen. Darüber sollte in einer ergebnisoffenen Erörterung auf einer gesonderten Parteivorstandssitzung gesprochen werden. Jetzt lässt er der Partei fixe Verabredungen servieren..“

In offenbar fundierter Kenntnis der seit 10 Jahren herrschenden Schröder-Monarchie sagte Scheer am Samstag voraus:

„Der Gipfel dieses eklatanten Vorgangs der Selbstnominierung ist doch, dass dies der Öffentlichkeit nunmehr als feststehende Tatsache verkündet und so auch berichtet wurde. Am Montag sollen dann das Präsidium und der Vorstand dieses Resultat brav abnicken – in der Erwartung, dass der Parteitag im November dasselbe tut. Dieser Vorgang ist prinzipiell untragbar. Es gab keinerlei Grund für ein derartiges Hauruckverfahren, das einer Ämterpiraterie gleichkommt. Denn der Parteitag findet erst in sechs Wochen statt. Und diese Zeit braucht die Partei, um mit ihrer gesamten Basis programmatische und personelle Konsequenzen aus ihrer schweren Wahlniederlage unter Führung von Steinmeier und Müntefering aufgrund einer fairen und offenen Diskussion zu ziehen.“

Daraus wurde vorerst nichts. Sigmar Gabriel wurde gestern in der SPD-Zentrale von den 36 anwesenden Mitgliedern des Parteivorstands mit 28 Stimmen gewählt. Das ebenfalls vorab ausgekungelte Amt als Generalsekretärin ging mit 24 Stimmen an Andrea Nahles.
Als stellvertretende Parteivorsitzende hatte die für das desaströse Wahldebakel verantwortliche bisherige Regierungsclique folgende Kandidaten vorherbestimmt:

– Hannelore Kraft, die Landesvorsitzende der SPD in NRW. Sie sagte gegenüber ZDF-Reportern heute folgendes: (1)

„Ich glaube, dass es Hinterzimmer gibt ist gut und richtig, die müssen auch sein in Vorbereitung von solchen Prozessen.“

Kraft will in NRW nächstes Jahr die Wahl gegen CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers gewinnen. Bei der Bundestagswahl kam sie immerhin auf 28.5 % (4). Ein für erfahrene SPD-Profis in Sachen Freiheitsabbau und Armutsgesetze mittlerweile überdurchschnittliches Ergebnis.

– der ehemalige Generalsekretär des Kanzlers Gerhard Schröder, Olaf Scholz. Über Franz Münteferings Äusserung, „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, sagte Scholz einmal, dass sei „eine Weisheit aus den frühen Tagen der Sozialdemokratie“. (5)
Ein führender SPD-Funktionär meinte in 2003 anonym über den „Scholzomaten“ (6):

„Olaf ist hoch intelligent, hoch begabt, hoch fleißig, hoch effizient. Das Problem ist: Er ist kein Mensch.“

Immerhin wurde Scholz im November 2003 auf dem SPD-Bundesparteitag in seinem Amt als Generalsekretär bestätigt – mit satten 52.6 %, ohne Gegenkandidaten. Bis zur Bundestagswahl im September 2009 verbreitete er als Arbeitsminister alte Weisheiten aus den frühen Tagen der Sozialdemokratie.

– die Sozialministerin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig. Bei ihr könnte man erleichtert vermerken, „No news are good news“, hätte sie nicht schon im „Kompetenzteam“ des Spitzenkanzlerkandidaten Steinmeier bei der Bundestagswahl Stimmen en masse eingefahren, als Diplom-Finanzwirtin geradezu prädestiniert für den „Bereich Familie und Soziales“.

Das jede dieser aussergewöhnlichen Fachkräfte für das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden im Vorstand seine ganz eigenen Fans und gewichtigen Befürworter hatte, bewies schon das Wahlergebnis: Kraft, Scholz und Schwesig erhielten jeweils 31 Ja-Stimmen (3). Klaus Wowereit,welch Missverständnis, kam nur auf 22 Stimmen als stellvertretender Vorsitzender.

Der nun so unerhört gehörte Partei-Dissident Hermann Scheer war einmal designierter Wirtschaftsminister der SPD Hessen. Nach deren fulminantem Wahlsieg am 27.Januar 2007 stand Scheer, zusammen mit Andrea Ypsilanti, für einen Neuanfang der SPD, gegen das faktisch von der Berliner Zentrale verhängte Verbot von eigenen Ministerpräsidenten, für eine eigenständige sozialdemokratische Politik und nicht zuletzt auch für eine Energiewende im 21.Jahrhundert, weg von den Konzernmonopolen über die Energieversorgung von 84 Millionen Menschen und deren Wirtschaft.

Vom Wähler beauftragt und in Wahlen ungeschlagen, wurden Scheer und Ypsilanti durch U-Boote der Rechten und der Energielobby innerhalb der SPD abgeschossen.

(…)

auch das noch:
01.10.2009 Spekulieren CDU und SPD-Spitze auf eine Fortsetzung der grossen Koalition?
Die Blockade der “Union” bei den Koalitionsverhandlungen mit der FDP hat möglicherweise strategische Gründe.
14.09.2009 „Regierung ist Mist, lasst uns mal weitermachen“
05.09.2009 Rätselhafte SPD-Strategie. Des Rätsels Lösung: SPD-Spitze arbeitet für andere.
10.09.2008 Ypsilanti soll in die Koalitionsfalle
05.03.2008 Gedanken zur Wahl von Andrea Ypsilanti
25.01.2008 Hessen und Niedersachsen: ist Montag Murmeltier-Tag?

Quellen:
(1) http://www.heute.de/ZDFheute/inhalt/20/0,3672,20,00.html
(2) http://www.stern.de/politik/deutschland/nominierung-der-neuen-spd-spitze-das-ist-aemterpiraterie-1512535.html
(3) http://www.focus.de/politik/deutschland/spd-vorstand-sigmar-gabriel-zum-neuen-spd-parteichef-gewaehlt_aid_442192.html
(4) http://www.wahlergebnisse.nrw.de/bundestagswahlen/2009/aktuell/a152bw0900.html
(5) http://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner
(6) http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2003/1117/seite3/0001/index.html
(7) http://nachrichten.aol.de/nachrichten-politik/spd-politiker-empoert-ueber-selbstnominierung/artikel/2009100511565903721647