THE VISITOR, Shanghai: Xilong (Teil 1)
Tagebucheintrag von THE VISITOR. Der Basis Filmverleih bringt den Nonfiction Film im Februar 2015 in die Kinos.
Es ist Nacht. Wir gehen über eine Brücke. Wir sehen über das Geländer. Unten, neben dem Fluss, ist eine schwacher Lichtstrahl und wir erkennen Kleider an einer Leine. Wir gehen die Treppen hinunter. Unter der Brücke ist ein Gewölbe. Aus dem Gewölbe kommt blaues Licht, wir sehen Betten. Auf den Betten liegen Männer und rauchen. Es sind etwa 50 Stockbetten aus Metall. Die Männer entdecken uns und schauen neugierig hinaus. Manche tragen nur Unterhosen. Lungern auf den Betten, ziehen an ihren Zigaretten, tippen in ihre Handys, streichen sich über ihre nackten Bäuche. Wir bleiben am Rand des Raumes stehen. Ich frage mit Gesten nach einer Zigarette. Sie geben mir die Zigarette, lachen.
Ich höre das fiepende, klackernde Geräusch eines Wasserkochers und, von weit hinten im Raum, Musik aus einem Fernseher. Trotzdem gibt es ein Schweigen, ein erstauntes Atemanhalten weil fremde Frauen aus dem Ausland den Raum, wenn auch nur den Rand des Raums betreten haben. Irgendwoher kommt ein Kichern. Von draussen schlängelt sich ein Mann an uns vorbei, staubige Haare, gross für einen Chinesen. Er setzt sich mit Würde an einen Tisch voll Abfall und Dreckspuren, nimmt eine alte Zeitung, schreibt darauf in Blockbuchstaben: WHAT DO YOU WANT und hält uns die Zeitung entgegen. Ich setze mich an den Tisch. „ I am curious“, schreibe ich. Er kennt das Wort nicht. Er tippt das Wort in sein Handy. Das Handy piept und sagt ihm was das Wort heisst. Er lacht. Er schreibt seinen Namen: Xilong. Andere Männer kommen an den Tisch. Sie verfolgen unser Schreiben wie ein Match. Xilong schreibt etwas, das ich nicht lesen kann. Ich sehe ihn fragend an. Er versucht es auszusprechen. Er kennt die englische Aussprache nicht, nur die Wörter durch sein Handy. Er sagt sehr bestimmt: WELCOME TO SHANGHAI BUT YOU DON’T COME TO HERE. Er grinst. In dem Grinsen ist ein Schmerz, eine Entschuldigung und ein Sieg. Die Männer lachen. Ich stehe langsam auf und wir gehen.
Am nächsten Tag kommen wir wieder. Die Kleidung flattert, das Gewölbe ist mit einem Gitter verrammelt. Er ist ausgeflogen, der Schwarm Männer, er kommt erst nachts ins Nest zurück. In der Nacht sind auch wir wieder da, gehen fast ohne zu zögern in den Raum, setzen uns an den schmutzigen Tisch. Xilong liegt auf seinem Bett aus Stahl, der Oberkörper ohne Hemd und tippt in sein Handy. Tippt konzentriert und bemerkt uns nicht. Ich lese in der Zeitung, auf der noch unsere Worte stehen von gestern. Die Zeitung raschelt, Xilong sieht hoch, sieht uns, erschrickt leicht, sein Gesicht geht auf. Er zieht sich sein Hemd an. Er freut sich. Aus dem Hintergrund ruft jemand: I love you, I kiss you. Xilong verlässt den Raum, ich folge ihm. Xilong fragt: WHERE DO YOU GO? Ich zucke die Schultern. Er geht in ein einfaches Restaurant mit weissen Plastikstühlen, bestellt Essen. Sagt: I AM WORK. WE COME FROM WANGXU. Xilong und die Männer im Brückenkeller sind Wanderarbeiter. Das Restaurant dröhnt von chinesischem Techno. Wir sind die einzigen Gäste. In der Wand spiegelt sich die Bedienung die uns beobachtet. Wir essen sehr lange Nudeln. Dann gehen wir wieder. Draussen fragt er: COME BACK?
Dann dreht er sich um und läuft in die Nacht.