„Töte einen Türken und dann ruh‘ Dich aus!“
VOR MEHR als 200 Jahren erklärte Thomas Jefferson, dass jede Nation mit einem „dezenten Respekt gegenüber den Meinungen der Menschheit“ handeln müsse. Die israelischen Führer haben nie die Weisheit dieser Maxime akzeptiert. Sie halten sich an das Diktum von David Ben-Gurion: „Es ist nicht wichtig, was Nicht-Juden sagen, wichtig ist, was Juden tun“ Aber er setzte voraus, dass die Juden nicht töricht handeln würden.
Die Türken zu Feinden zu machen, ist dumm. Seit Jahrzehnten ist die Türkei unser engster Verbündeter in der Region gewesen, viel mehr als allgemein bekannt ist. Die Türkei könnte in der Zukunft eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen Israel und der arabisch-muslimischen Welt spielen, zwischen Israel und Syrien, und sogar zwischen Israel und dem Iran. Vielleicht ist es uns jetzt gelungen, das türkische Volk gegen uns zu vereinigen – und einige sagen, dass dies die einzige Sache sei, die die Türken nun verbindet.
AUF HOHER See wurde in internationalen Gewässern ein Schiff von der Marine gestoppt. Militär stürmte es. Hunderte an Deck widersetzten sich. Die Soldaten wandten Gewalt an. Einige der Passagiere wurden getötet, viele verletzt. Das Schiff wurde in den Hafen gebracht.
Die Passagiere wurden gewaltsam vom Schiff geführt. Die Welt sah sie auf dem Kai gehen, Männer und Frauen, junge und alte, alle müde und ausgemergelt, einer nach dem anderen, von Soldaten auf beiden Seiten gestützt…
Das Schiff wurde „Exodus 1947“ genannt. Es verließ Frankreich in der Hoffnung, die britische Blockade zu brechen, die verhängt war, um Schiffe voller Holocaustüberlebender daran zu hindern, die Küste Palästinas zu erreichen. Wenn es ihm erlaubt worden wäre, das Land zu erreichen, wären die illegalen Immigranten gelandet, und die Britten hätten sie in Haftlager nach Zypern gesandt, wie sie es vorher getan hatten. Keiner würde sich an die Episode vor mehr als zwei Tagen erinnert haben.
Aber die verantwortliche Person war Ernst Bevin, ein Führer der Laborpartei, ein arroganter, grober und machthungriger britischer Minister. Er hatte nicht vor, sich von einem Haufen Juden etwas sagen zu lassen. Er entschied sich, ihnen eine Lektion zu erteilen, und die ganze Welt wäre Zeuge davon gewesen. „Dies ist eine Provokation!“ erklärte er, und natürlich hatte er Recht. Das Hauptziel des Schiffes war tatsächlich, eine Provokation zu schaffen, um die Augen der Welt auf die britische Blockade zu richten.
Was dann folgt ist allen wohlbekannt: die Episode zog sich hin ; eine Dummheit folgte der anderen; die ganze Welt sympathisierte mit den Passagieren. Aber die Briten gaben nicht nach und zahlten den Preis. Einen hohen Preis.
Viele glauben, dass der „Exodus“-Vorfall der Wendepunkt im Kampf um die Schaffung des Staates Israel war. Die Briten brachen unter dem Gewicht der internationalen Verurteilung zusammen und entschieden, das Mandat über Palästina aufzugeben. Es gab natürlich noch viele andere gewichtigere Gründe für diese Entscheidung, aber die „Exodus“ schien der Strohhalm zu sein, der dem Kamel den Rücken brach.
ICH WAR nicht der einzige, der in dieser Woche an diese Episode erinnert wurde. Tatsächlich war es fast unmöglich, nicht daran erinnert zu werden, besonders von denen von uns, die damals in Palästina lebten und Zeugen davon wurden.
Da gibt es natürlich große Unterschiede. Damals waren die Passagiere Holocaustüberlebende, dieses Mal waren es Friedensaktivisten aus aller Welt. Aber damals wie heute sah die Welt, wie schwer bewaffnete Soldaten unbewaffnete Passagiere brutal angriffen, die mit allem, was sie in die Hände bekommen konnten – mit Stöcken und bloßen Händen – sich wehrten. Damals wie jetzt ereignete es sich auf hoher See – damals 40 km von der Küste entfernt, jetzt 65 km.
In der Rückschau erscheint das britische Verhalten während der ganzen Affäre unglaublich dumm. Aber Bevin war kein Dummkopf, und die britischen Offiziere, die die Aktion kommandierten, waren keine Trottel. Schließlich hatten sie gerade den 2.Weltkrieg siegreich beendet.
Wenn sie sich vollkommen töricht von Anfang bis Ende verhielten, war es die Folge von Arroganz, Gefühllosigkeit und grenzenloser Verachtung für die öffentliche Meinung der Welt.
Ehud Barak ist der israelische Bevin. Auch er ist kein Dummkopf, genau so wenig wie unsere hohen Offiziere. Aber sie sind verantwortlich für eine Reihe törichter Handlungen mit verheerenden Auswirkungen, die kaum abzuschätzen sind. Der frühere Minister und jetzige Kommentator Yossi Sarid nannte das ministerielle „Komitee der Sieben“, das über die Sicherheitsbelange entscheidet, „sieben Idioten“ – und ich muss protestieren. Es ist eine Beleidigung der Idioten.
DIE VORBEREITUNGEN für die Flotille dauerten länger als ein Jahr. Hunderte von E-mail-Botschaften gingen hin und zurück. Ich selbst erhielt Dutzende. Es war kein Geheimnis. Alles wurde offen vorbereitet.
Es war also viel Zeit für alle unsere politischen und militärischen Institutionen, sich für die Ankunft der Schiffe vorzubereiten. Die Politiker berieten sich. Die Soldaten trainierten. Die Diplomaten berichteten. Die Leute vom Nachrichtendienst taten ihren Job.
Nichts half. Alle Entscheidungen waren falsch vom ersten Augenblick an. Und wir sind noch nicht am Ende.
Die Idee einer Flotte als Mittel, die Blockade zu brechen, ist genial. Sie bringt die israelische Regierung in eine Zwickmühle – die Wahl zwischen mehreren Alternativen, die alle schlimm sind. Jeder Feldherr hofft, seinen Gegner in solch eine Lage zu bringen.
Die Alternativen waren:
(a) Die Flotille ohne Hindernis Gaza erreichen zu lassen. Der Kabinettssekretär schlug vor, dies zu tun. Dies würde zum Ende der Blockade geführt haben, weil danach weitere und größere Flotten gekommen wären.
(b) Die Schiffe in territorialen Gewässern zu stoppen, ihre Fracht zu kontrollieren und sicher zu gehen, dass keine Waffen oder „Terroristen“ an Bord sind, und sie dann ihren Weg fortsetzen zu lassen. Das hätte einigen vagen Protest in der Welt gegeben, aber das Prinzip einer Blockade aufrecht erhalten.
(c) Sie auf hoher See gefangen zu nehmen, sie nach Ashdod zu bringen und eine direkte Schlacht mit den Aktivisten an Bord zu riskieren.
Wie alle Regierungen es bis jetzt getan haben, als sie mit verschiedenen schlechten Alternativen konfrontiert waren, hat die Regierung Netanyahu die schlimmste gewählt.
Jeder, der den Vorbereitungen folgte, wie sie in den Medien berichtet wurden, hätte voraussehen können, dies würde dazu führen, dass Menschen getötet und verletzt würden. Man stürmt kein türkisches Schiff und erwartet niedliche kleine Mädchen, die einen mit Blumen begrüßen. Die Türken sind nicht dafür bekannt, dass sie leicht aufgeben.
Die Befehle, die dem Militär gegeben und der Öffentlichkeit bekannt gegeben wurden, schlossen die drei schicksalsvollen Worte ein: „um jeden Preis“. Jeder Soldat weiß, was diese schrecklichen Worte bedeuten. Außerdem stand die Rücksicht gegenüber den Passagieren erst an dritter Stelle auf der Liste der Ziele, nach der Gewährleistung der Sicherheit der Soldaten und der Erfüllung der Aufgabe.
Wenn Binyamin Netanyahu, Ehud Barak, der Stabschef und der Kommandeur der Flotte, nicht verstanden hatten, dass dies zum Töten und Verletzen von Menschen führt, muss die Schlussfolgerung gezogen werden – selbst von jenen, die zögerten, dies so zu sehen – dass sie vollkommen inkompetent sind. Ihnen muss mit den unsterblichen Worten Oliver Cromwells zum Parlament gesagt werden: „Im Namen Gottes geht!“
DIESER VORFALL weist wieder auf einen der ernsthaftesten Aspekte unserer Situation: wir leben in einer Seifenblase, in einer Art mentalem Ghetto, das uns abschneidet und uns daran hindert, eine andere Realität zu sehen, die vom Rest der Welt wahrgenommen wird. Ein Psychiater könnte dies als Symptom einer ernsten psychischen Erkrankung sehen.
Die Propaganda der Regierung und der Armee erzählt eine einfache Geschichte: unsere heldenhaften Soldaten, entschlossen und sensibel, die Elite der Elite, kamen auf das Schiff, um zu „reden“, und wurden von einer wilden und gewalttätigen Menge angegriffen. Offizielle Sprecher wiederholten immer wieder das Wort „lynchen“.
Am ersten Tag akzeptierten dies fast alle israelischen Medien. Schließlich ist klar, dass wir, die Juden, die Opfer sind. Immer. Das gilt auch für jüdische Soldaten. Es stimmt zwar, dass wir ein ausländisches Schiff stürmten, wurden aber gleich zu Opfern, die keine andere Wahl hatten, als sich selbst gegen gewalttätige und aufgehetzte Antisemiten zu verteidigen.
Es ist fast unmöglich, sich nicht an den klassischen jüdischen Witz zu erinnern: an die jüdische Mutter in Russland, die sich von ihrem Sohn verabschiedet, der aufgerufen wurde , dem Zar im Krieg gegen die Türkei zu dienen: „Überanstreng dich nicht!“ fleht sie ihn an, „Töte einen Türken, und dann ruh dich aus! Dann töte einen anderen Türken und ruh dich wieder aus…“
„Aber Mutter,“ unterbricht sie der Sohn. „Was, wenn die Türken mich töten?“
„Dich?“ ruft die Mutter aus, „Aber warum? Was hast du ihnen getan?“
Für eine normale Person mag dies verrückt klingen. Schwer bewaffnete Soldaten eines Elitekommandos greifen ein Schiff auf hoher See mitten in der Nacht vom Meer und aus der Luft an – und sie sind die Opfer?
Aber es stimmt, doch in anderer Weise: sie sind die Opfer eines arroganten und inkompetenten Kommandeurs, unverantwortlicher Politiker und der Medien, die von ihnen gefüttert werden. Und tatsächlich auch von der israelischen Öffentlichkeit, da die meisten diese Regierung und diese Opposition gewählt haben, die auch nicht anders ist.
Die „Exodus“-Affäre wurde wiederholt, aber mit vertauschten Rollen. Nun sind wir die Briten.
Irgendwo wird ein neuer Leon Uris sein nächstes Buch planen, „Exodus 2010“. Ein neuer Otto Preminger wird einen Film planen, der ein Knüller werden wird. Ein neuer Paul Newman wird darin ein Star sein – schließlich gibt es keinen Mangel an talentierten türkischen Schauspielern.
VOR MEHR als 200 Jahren erklärte Thomas Jefferson, dass jede Nation mit einem „dezenten Respekt gegenüber den Meinungen der Menschheit“ handeln müsse. Die israelischen Führer haben nie die Weisheit dieser Maxime akzeptiert. Sie halten sich an das Diktum von David Ben-Gurion: „Es ist nicht wichtig, was Nicht-Juden sagen, wichtig ist, was Juden tun“ Aber er setzte voraus, dass die Juden nicht töricht handeln würden.
Die Türken zu Feinden zu machen, ist dumm. Seit Jahrzehnten ist die Türkei unser engster Verbündeter in der Region gewesen, viel mehr als allgemein bekannt ist. Die Türkei könnte in der Zukunft eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen Israel und der arabisch-muslimischen Welt spielen, zwischen Israel und Syrien, und sogar zwischen Israel und dem Iran. Vielleicht ist es uns jetzt gelungen, das türkische Volk gegen uns zu vereinigen – und einige sagen, dass dies die einzige Sache sei, die die Türken nun verbindet.
Dies ist das 2. Kapitel von Cast Lead ( 2008/09). Damals erhoben sich die meisten Länder gegen uns, wir schreckten unsere wenigen Freunde auf und erfreuten unsere Feinde. Nun haben wir dasselbe noch einmal getan und vielleicht mit größerem Erfolg. Die öffentliche Meinung der Welt wendet sich gegen uns.
Es ist ein langsamer Prozess. Es ähnelt der Ansammlung von Wasser hinter einem Damm. Das Wasser steigt langsam, still, und die Veränderung ist kaum zu bemerken. Aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht der Damm, und eine Katastrophe folgt. Wir nähern uns immer mehr diesem Punkt .
„Töte einen Türken und ruh dich aus“, sagt die Mutter in dem Witz. Unsere Regierung ruht sich nicht einmal aus. Es scheint, sie wolle nicht aufhören, bis sie auch die letzten unserer Freunde zu Feinden gemacht hat.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
(Ausschnitte aus diesem Artikel wurden in Maariv, Israels zweitgrößter Zeitung veröffentlicht)